Chroniken von Nodritsch: Unterschied zwischen den Versionen
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Kein Fisch springt. | Kein Fisch springt. | ||
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Nicht Feuer fällt vom Himmel, | Nicht Feuer fällt vom Himmel, | ||
sondern die Stille aus der Tiefe. | sondern die Stille aus der Tiefe. | ||
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Nicht Städte brechen, | Nicht Städte brechen, | ||
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Nicht Leben stirbt, | Nicht Leben stirbt, | ||
sondern das, | sondern das, | ||
was man glaubte, es sei Leben. | was man glaubte, es sei Leben. | ||
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und kein Mensch mehr fragt, | und kein Mensch mehr fragt, | ||
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nicht mit Gnade, | nicht mit Gnade, | ||
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Aktuelle Version vom 22. August 2025, 00:34 Uhr
Inhaltsverzeichnis
- 1 Vorwort
- 2 Die Chroniken von Nodritsch
- 2.1 I. Das erste Erscheinen (739–1050)
- 2.2 II. Die Zeit des Stammesblutens (1050–1121)
- 2.3 III. Die Vereinigung durch Vidar Notrych (1121–1124)
- 2.4 IV. Schatten zwischen den Reichen (1124–1436)
- 2.5 V. Der Weg in die Feindschaft (1436–1750)
- 2.6 VI. Der Alte Krieg (1750–1923)
- 2.7 VII. Die Gegenwart (1923–2024)
- 3 Nachwort
- 4 Das Testament des Schweigens – Der Pfad Ylvannas
- 4.1 Erster Verse – Von Fall und Flamme
- 4.2 Zweiter Verse – Vom Süden
- 4.3 Dritter Verse – Vom Norden
- 4.4 Vierter Verse – Von Ylvanna
- 4.5 Fünfter Verse – Die Prüfungen
- 4.6 Sechster Verse – Von den Rufenden
- 4.7 Siebter Verse – Von den Zeichen der Stille
- 4.8 Achter Verse – Die Zeichen der Tiere
- 4.9 Neunter Verse – Vom Wandel im Fleisch
- 4.10 Zehnter Verse – Der Umbruch
- 4.11 Nachvers – Das Wort, das nicht gesprochen wird
- 5 Schlusswort
Vorwort
"Die Testamente und Chroniken des Nordens sind älter als seine Grenzen. Wer sie verstehen will, muss zuhören – nicht urteilen.“
Diese Schrift ist der Versuch, die wichtigsten Ereignisse, Bräuche und Mythen der Nordlande zusammenzufassen. Ich habe mich dabei sowohl auf das alte Testament als auch auf die Aufzeichnungen südlicher Gelehrter gestützt. Möge dieses Werk nicht spalten, sondern erklären.
– Vikohr Feuermal (21. Jh.)
Die Chroniken von Nodritsch
I. Das erste Erscheinen (739–1050)
Vor beinahe dreizehn Jahrhunderten, so berichten die Chronisten, tauchten an den Küsten der alten Welt zum ersten Mal lange, schmale Schiffe auf, deren Buge wie Drachenköpfe in die Gischt schnitten. Männer und Frauen aus dem hohen Norden stiegen von Bord – hochgewachsen, das Haar geflochten, gekleidet in Wolle, Fell und Leder. Ihre Sprache war fremd, ihr Ursprung blieb im Nebel. Ob sie flohen, ob sie suchten oder ob sie kamen, um zu nehmen, was sie begehrten – darüber streiten die Gelehrten bis heute.
Im Jahre 841 kam es zum ersten offenen Zusammentreffen mit dem Kaiserreich. Und gegen alles, was die Legenden später erzählen, war dieser Beginn kein Feuer aus Hass, sondern ein vorsichtiges Gespräch. Man sprach von Handel, schloss Abkommen, manche dieser Fremden ließen sich im Süden nieder, andere traten als Söldner in fremde Dienste. Noch lag kein Gift zwischen den Völkern – nur Neugier, und diese auch nur in den Herzen jener, die den Blick wagten.
Währenddessen war der Norden selbst ein Reich aus Stämmen, zersplittert, von Wäldern umschlossen, von schroffen Küsten zerschnitten und von endlosen Ebenen geformt. Die Jarls – die Führer der Stämme – rangen unablässig um Macht, ihre Gesetze und Bräuche unterschieden sich, doch eines verband sie: die Treue zum eigenen Blut, die Ehre, die Kraft und den Zusammenhalt ihres Stammes. Und nicht nur Menschen siedelten dort – auch die Zwerge waren tief in den Gebirgen des Nordens verwurzelt, während Elfen, selten und scheu, nur in den Kreisen der Schamanen zu finden waren.
II. Die Zeit des Stammesblutens (1050–1121)
Was als kleine Reibereien zwischen Dörfern begann, wuchs im elften Jahrhundert zu einem Krieg ohne Ende. Es war ein Jahrhundert aus Blut und Brand, und man nannte es später die Zeit des Stammesblutens. Familien verbrannten in ihren Häusern, Felder verfaulten im Streit, ganze Sippen wurden ausgelöscht.
Doch in diesem Leid keimte auch etwas anderes: Geschichten. Legenden von Helden und Schildmaiden, von Kämpfen und Opfern, die in den Liedern des Nordens bis heute klingen. Aus jener Zeit stammen viele der Erzählungen, die bis in die Gegenwart den Kern nordischer Kultur bilden. Und unter all den Stimmen erhob sich leise die Sehnsucht nach etwas Neuem – nach einem Ende des Blutzolls, nach einem geeinten Land.
III. Die Vereinigung durch Vidar Notrych (1121–1124)
Aus den Wirren der Stammeskriege erhob sich jedoch einer: Vidar Notrych, der Eiserne von Ylgrasur. Über seine Herkunft widersprechen sich die Lieder – edles Blut oder Kind einer Hirtengemeinde –, doch gerade das machte ihn zu einer Gestalt, in der jeder Nordmann sich wiederfand. Vidar war mehr als ein Krieger: Stratege und Diplomat zugleich.. Er schloss Bündnisse durch Heiraten, sprach, wo andere schlugen, und schlug, wo Worte allein nichts mehr trugen. Sein Blick war weiter als die Grenzen eines einzelnen Stammes. Durch Allianzen und Versöhnungen führte er die Stämme zusammen. Dieser Weg ging als Eiserner Marsch in die Überlieferung ein – getragen nicht nur von Schwertern, sondern auch von Ausgleich. 1124, beim Ratfeuer von Lornhavn, schworen die Jarls den Eid und gründeten Nodritsch, das erste vereinte Stammesreich. Vidar wurde als Hochjarl anerkannt – ein Herrscher über Sippen und Grenzen hinaus. Sein Ende bleibt ungewiss: friedlich verstorben oder in den Bergen verschwunden. Doch sein Name wurde Sinnbild für Einigkeit und Klugheit. Bis heute gilt der Eid des Eisernen als Fanal für jene, die Freiheit und Selbstbestimmung suchen.
IIIa. Leben, Bräuche und das Alte Gesetz
Seit Vidar Notrych die verstreuten Stämme des Nordens vereinte, teilen Menschen, Zwerge und Elfen des Nordens nicht nur ein Reich, sondern auch eine Haltung: Inmitten von Wind, Kälte und weitem Land haben sie gelernt, Einfachheit zu achten und ihre Stärke in der Gemeinschaft zu finden.
Die Gudme ist die Währung des Nordens – älter als jedes Reich und jedes Gesetz. Seit Jahrhunderten werden ihre Silbermünzen geprägt und im Handel verwendet. Bis heute gilt sie als das wahre Geld des Nordens, während kaiserliche Oren vielerorts nur widerwillig angenommen werden.
Die Dörfer der Menschen liegen wie Inseln in der Weite, Holzhäuser aus Torf und Balken, geduckt gegen Sturm und Schnee. Die Hallen der Zwerge reichen tief in die Berge hinein, getragen von Erzadern und dem Echo der Schmiedehämmer. Die Elfen bewahren ihre Siedlungen verborgen, halb im Schatten der Wälder, halb in den Nebeln des Glaubens.
Das Leben richtet sich nach dem Nutzen. Kleidung schützt vor den Elementen – Fell gegen den Frost, grobe Wolle gegen den Wind. Schmuck bleibt schlicht, gefertigt aus Knochen, Holz oder Bernstein. Silber und Eisen jedoch besitzen besonderen Rang: Nicht, weil sie selten wären, sondern weil ihre Bearbeitung Können, Mühe und Kunst verlangt. Wer fein geschmiedete Ketten, Fibeln oder Ringe trägt, zeigt damit nicht nur Reichtum, sondern auch Rang und Verdienst.
Über allem aber steht die Gastfreundschaft. Jeder Reisende findet Schutz am Herdfeuer, selbst der Feind. Wer dieses Gesetz bricht, verliert seine Ehre – und mit ihr den Schutz der Gemeinschaft. Kinder wachsen im Kreis aller auf – jedes Dorf trägt Verantwortung für seine Jungen und Mädchen. Streit wird zuerst am Herdfeuer geschlichtet; scheitert das Wort, so ruft man das Ting ein: die große Versammlung unter freiem Himmel, in der alle Freien beraten. Dort, im Kreis der Steine, sprechen Älteste, Sippenführer und Krieger, bis ein Urteil gefunden wird, das schwerer wiegt als jedes Schwert. Kein Häuptling steht über diesem Rat, denn im Ting spricht nicht einer – sondern das Volk.
Findet selbst das keinen Frieden, so zieht man zu den alten Tiersteinen hinaus, wo der Zweikampf entscheidet – im Glauben, dass Ylvanna, der Wille der Erde, den Ausgang bestimmt. Auch wenn das Kaiserreich dieses Recht im Jahr 1923 aufhob, lebt das Ting in abgelegenen Tälern bis heute fort.
Über allem aber steht das Alte Gesetz, das Vidar selbst zugeschrieben wird. Es wurde nie aufgeschrieben, sondern von Winter zu Winter, von Mund zu Mund weitergegeben: Vom Leben und der Würde: Keiner soll ohne Grund Leben oder Ehre nehmen.
- Vom Wort: Ein Versprechen bindet wie ein Eid.
- Vom Streit: Erst das Ting, dann der Kampf.
- Von Erde und Tier: Die Erde gehört niemandem; nimm nur, was du brauchst.
- Vom Geben und Nehmen: Wer führt, dient. Wer nimmt, gibt zurück.
Die Jahreszeiten geben auch den Festen ihren Takt. Mit dem Fest des ersten Lichts begrüßen die Menschen die Rückkehr der Sonne. Beim Erntemahl danken sie Ylvanna und den Tieren für die Gaben des Sommers. Und im Wettstreit der Hände treten die Dörfer gegeneinander an – im Kampf, in der Kraft, in Versen und Geschichten.
So haben sich Bräuche und Gesetze, alt wie die Stämme selbst, durch die Jahrhunderte bewahrt – nicht als starre Vorschriften, sondern als eine Haltung, als ein Blick auf die Welt. Sie geben dem Norden bis heute sein eigenes, unverwechselbares Gesicht.
IV. Schatten zwischen den Reichen (1124–1436)
Die Einigung des Nordens blieb dem Süden nicht verborgen. Anfangs war es nur Misstrauen, doch bald wuchs daraus Argwohn. Es begann ein leiser Krieg im Schatten: Gesandtschaften, Spione, Gerüchte. Grenzüberfälle und kleine Scharmützel schürten über Generationen die Feindschaft.
Im Kaiserreich sprach man verächtlich vom „Barbarenreich im Norden“, während im Norden die Dichter Lieder von einem schwachen, dekadenten Süden sangen. Und wie so oft lag die Wahrheit irgendwo dazwischen.
V. Der Weg in die Feindschaft (1436–1750)
Im Jahr 1436 brach der Streit zum ersten Mal offen auf. Die Schlacht von Hrimturm, ausgefochten um eine Grenzregion voller Straßen, Festungen und Machtlinien, wurde der Auftakt. Das Kaiserreich gewann die Schlacht, doch nicht die Ruhe an der Grenze – im Gegenteil, der Graben wurde tiefer.
Über die Jahrzehnte hinweg verflochten sich Intrige und Misstrauen. Einige Jarls wechselten die Seite und schworen dem Kaiserreich Treue; im Norden galten sie als Verräter. Im Süden wiederum sah man jeden Versuch nordischer Selbstbestimmung als Bedrohung des Friedens. Und so folgten Provokationen auf Scharmützel, Verrat auf Verrat.
Am Ende brachten zwei Ereignisse den endgültigen Bruch: – der Tod einer kaiserlichen Gesandtschaft, dessen Ursachen nie geklärt wurden – das Massaker von Calburg, bei dem nordische Händler von kaiserlichen Grenzsoldaten getötet wurden.
Im Norden galt dies als Angriff auf die eigene Würde, im Süden als notwendige Maßnahme. Und so brach die letzte Brücke, und der offene Krieg begann.
VI. Der Alte Krieg (1750–1923)
Was man später den Alten Krieg nannte, dauerte beinahe zwei Jahrhunderte. Kämpfe flammten auf, erloschen, und begannen von Neuem. Ganze Generationen kannten kein Leben ohne diese Last.
Schlachten wie jene von Frostgipfel im Jahr 1754 sind noch heute in aller Munde, doch keine brachte die Entscheidung. Am Ende war es nicht eine große Niederlage, sondern der Hunger, die Erschöpfung, die innere Zersplitterung und der Rückstand in den Künsten des Krieges, die Nodritsch zu Boden rissen.
1923 fiel das Reich. Das Kaiserreich besetzte die Länder, löschte den Titel des Hochjarls aus und entmachtete das Stammreich Notrych.
VII. Die Gegenwart (1923–2024)
Heute gehört der Norden dem Kaiserreich – doch nur auf dem Papier. Abseits der großen Städte lebt vieles weiter: alte Rituale, Runenschriften, Lieder, die im Verborgenen gesungen werden. Die Verwaltung des Reiches gilt hier als träge und fremd, ihre Macht reicht selten über die Städte hinaus.
In dieser Leere erhoben sich Gruppen, die sich Erben des Nordens nannten. Anfangs waren sie Hüter von Geschichten und Bräuchen, gebildet aus Kriegsveteranen, verarmten Jarlsippen und jenen, die sich vom Reich vergessen fühlten. Ohne festes Banner, ohne zentrale Führung wirkten sie wie verstreute Glutnester – hier als Erzähler und Bewahrer, dort als Rechtsprecher, wo keine kaiserliche Ordnung hinreichte. Mit den Jahren aber spaltete sich die Bewegung. Manche hielten an Liedern, Ritualen und friedlicher Selbstbehauptung fest, andere wurden radikaler und griffen zu Sabotage und Angriffen, vor allem in jenen Tälern, die das Reich kaum erreichte. So wurde der Name Erben des Nordens zugleich Banner und Makel: für die einen Ausdruck von Identität, für die anderen Zeichen des Aufruhrs.
Und doch – ob in stillen Dorffesten oder in den Schatten entlegener Berge – lebt durch sie die Erinnerung an ein Land, das einst sich selbst gehörte. Der Norden bleibt gespalten: Für die einen bringt das Kaiserreich Schutz und Fortschritt, für die anderen nur Unterdrückung. Doch was auch geschieht – das Herz des Nordens schlägt weiter, und es schlägt laut.
Nachwort
Und doch – jenseits aller Chroniken, jenseits von Daten und Bannern, lebt im Norden etwas, das älter ist als jedes Reich.
Was hier im Buch ruht, lebt in Versen, die im Schnee der Nächte geflüstert werden.
Geschichten von Wind und Stein, von Stille – und von Ylvanna.
Wo meine Worte enden, beginnen jene, die älter sind als mein Wissen: das Testament Ylvannas.
– Vikohr Feuermal (21. Jh.)
Das Testament des Schweigens – Der Pfad Ylvannas
Erster Verse – Von Fall und Flamme
Da brachen die Hallen, und Steine lagen wie Knochen im Schnee. Die Banner sanken in Asche, und der Letzte seiner Linie stand allein zwischen Trümmern und Wind.
Drei Nächte rief er nicht, sprach nicht, wartete.
In der vierten Nacht erschien eine Gestalt, hell wie der Morgen, doch schweigend.
Ihre Tränen fielen wie Tau auf gefrorenen Boden, und sie blieb bei ihm. Ihre Gegenwart war wie Feuer.
Sie half ihm, Steine zu heben, und Hallen wuchsen wieder auf. Der Frost wich aus den Herzen, als wäre er nie gewesen.
Als sie ihm den Kuss der Götter gab, wusste das Volk: Dies ist der Erste einer neuen Linie.
Doch die Gestalt verschwand im Licht, und unter ihrem Herzen trug sie ein Kind. Nur Legenden blieben.
Ihr Name war Marissa.
Und der Süden sprach:
„Siehe, eine Flamme ist uns geboren, ein Licht gegen die Finsternis.“
Zweiter Verse – Vom Süden
Und so wuchs im Süden ein Reich, das den Namen Marissas sang.
Marissa wurde geehrt, als Quelle allen Lebens, die Flamme, die den Winter bricht.
Weiße Tempel erhoben sich wie Zähne gegen den Himmel. Straßen füllten sich mit Gesang, und schwerer Weihrauch hing in den Hallen.
Ihr Name war Trost auf den Lippen, ihr Antlitz Güte und Ordnung. Und ihre Lehre wuchs mit dem Reich, bis selbst die Meere ihre Hymnen kannten.
Doch im Glanz des Südens wuchs unbemerkt ein Schatten hinter der Flamme.
Dritter Verse – Vom Norden
Der Norden schwieg.
Während der Süden sang, hörte der Norden zu.
Dort kriecht die Sonne wie ein verwundetes Tier, und der Wind friert selbst Gedanken ein.
Die Seelen dort erinnern sich nicht an Wärme, sondern an Stille; nicht an Versprechen, sondern an das, was bleibt, wenn alles vergeht.
„Und als der Süden sang,
blieb der Norden still. Und im Schweigen hörten sie etwas,
das nicht sterben will.”
Wo keine Flamme brennt, stehen keine Könige. Nur Tiere, älter als jedes Gesicht aus Fleisch, warten im Stein, bis alles verstummt
Vom Wolf, der führt, vom Bären, der trägt, vom Raben, der kreist, vom Hirsch, der den Weg weist, vom Luchs, der wacht.
Diese Tiere sind die ersten Lehrer, heilig, weil sie leben, wo die Völker kaum noch leben.
Und im Schweigen dieser Länder gab man dem, was dort waltet, einen Namen:
Vierter Verse – Von Ylvanna
Ylvanna.
Sie spricht nicht. Sie erscheint nicht. Sie ist.
Im Stein, in der Kälte, im Schweigen.
Manche sagen, sie sei niemals gegangen. Andere, sie sei nie gekommen.
Doch wer lange genug wandert, wer Hunger, Sturm und Nacht erträgt, spürt sie:
In den Augen des alten Wolfes, in den Rissen gefrorener Erde, im Atem der Robben, im Flug des Raben, im Schmerz dessen, der überlebt.
Ylvanna ist nicht Licht wie Marissa. Sie ist das Dunkel, das trägt, wenn kein Licht mehr da ist.
Darum sagen die Alten:
„Die Flamme wärmt dich. Doch der Stein trägt dich.“
Fünfter Verse – Die Prüfungen
Und wer Ylvanna sucht,
der sucht nicht Tempel oder Bücher.
Es gibt nur Prüfungen.
Die Tiefe
„Steig hinab, ohne Grund.“
Höhlen ohne Ende,
Träume ohne Ausgang.
Kein Ziel, kein Trost –
nur das Herz, das zerbricht.
Der Frost „Bleib, wenn alles in dir schreit, zu fliehen.“ Kein Feuer darf helfen. Die Kälte frisst sich durch Fleisch und Seele, bis nichts bleibt als Wille.
Das Schweigen „Höre, was nicht gesprochen wird.“ Keine Tat. Kein Wort. Nur Stille.
„Und wer sie findet,
der findet nichts. Und dieses Nichts
trägt ihn bis ans Ende.“
Manche kehren nicht zurück. Manche kehren zurück – nicht mehr dieselben.
Sechster Verse – Von den Rufenden
Die Gezeichneten. Die Erwachten. Sie wurden zu Rufenden.
Keine Priester, keine Heiligen, keine goldenen Hallen.
Nur die, die draußen bleiben, wo der Wind alles fortträgt.
Ihre Hände sind rau von Frost und Erde. Sie kennen keine Throne, kein Buch mit Regeln, kein Feuer, das nie verlischt.
Sie tragen Fell, Stein und Knochen und wohnen auf Feldern der Toten, in versunkenen Höfen, zwischen Mauern, die der Schnee verschluckte.
Ihre Augen sind tief wie Erde. Und wer zu ihnen kommt, wird oft fortgeschickt.
„Bleib, wenn der Wind dich brechen will. Höre, wenn keine Stimme spricht. Sieh, nicht mit den Augen, sondern mit dem, was bleibt,
wenn Augen blind sind.“
Und manchmal antworten die Tiere: der Schrei des Adlers, das Knurren des Wolfes, das ferne Klopfen der Robbe unter schwarzem Eis.
So beginnt der Pfad.
Siebter Verse – Von den Zeichen der Stille
"Wer diesen Pfad geht, lernt die Zeichen."
Die Nacht des Schweigens
Wenn die Sonne am niedrigsten steht,
versammeln sie sich in Steinkreisen.
Kein Wort wird gesprochen.
Kein Feuer brennt.
Nur Atem in der Dunkelheit.
Manche sagen,
wer diese Nacht übersteht,
fühlt Ylvannas Blick.
Das Gehen
Wer den Ruf hört,
verlässt Heim und Feuer.
Und er geht.
Allein.
Tage. Wochen. Jahre.
Wenn er zurückkehrt,
spricht er wenig.
Sein Blick ist anders.
Das Legen der Steine
Wenn Schmerz das Herz trifft,
legt man einen Stein
auf Gräber, Hügel oder Wegkreuze.
Jeder Stein sagt:
„Ich habe getragen.“
"Kein Feuer in der Nacht.
Kein Lied im Schnee. Nur Atem.
Und die, die lauschen."
Auf manchen Steinen zeichnen sie die Gestalt eines Tieres – eine Spur, ein Strich. So erinnern sie sich, wem sie folgen.
Achter Verse – Die Zeichen der Tiere
"Denn die Tiere sind im Norden nicht Beute.
Sie sind Spiegel, Lehrer, Zeugen."
Als die Völker im Sturm standen und alles verloren, sahen sie, dass die Tiere blieben:
Wo sie fielen, gingen die Tiere weiter.
Wo sie froren, fanden die Tiere Wärme.
Wo sie schwiegen, atmeten die Tiere.
Darum sind die Tiere heilig, und kein Stein steht höher als ihrer.
Die Heiligtümer
Wo Schnee die Hügel deckt und Stille die Täler verschluckt, steht am Rand jedes Dorfes ein alter Schrein: ein Tier aus Fels gehauen oder aus Holz geschnitzt, vom Wind gezeichnet, vom Alter geformt. Nah genug, dass jeder im Stamm erkennt, wem er folgt, fern genug, dass die Heiligkeit spürbar bleibt. Kein Pfad führt direkt zu ihnen – wer sie sucht, muss Hunger und Kälte ertragen, bis sie aus der Ferne wie dunkle Schatten ragen.
Von Geburt, Leben und Tod
Bei der Geburt eines Kindes wird eine Figur geformt – erst aus Stein oder Knochen, später vielleicht aus einem Geschenk des Weges. Dieses Zeichen begleitet es durchs Leben.
Wenn ein Mensch stirbt, legen die Hinterbliebenen die Figur auf seine Brust. Kein Name, kein Schmuck – nur das Tier, das ihn gefunden hat. Mit den Jahren verwittern Holz und Knochen, der Wind trägt sie fort, doch die Steine bleiben. Die Lebenden legen neue hinzu, bis aus einzelnen Gräbern Hügel wachsen, die Reihen stummer Steine werden zu Mahnmalen, hinter denen die Tiere nur noch in der Erinnerung wachen.
Die Prophetie der Tiere
Wenn Ylvanna wieder spürbar wird, werden es zuerst die Tiere merken: Wölfe ziehen näher an die Dörfer, Bären schlafen in den Tälern, Raben ziehen in Kreisen über den Stämmen, bis ihre Schatten die Sonne verdunkeln.
Und wenn die Letzte Stille fällt, werden die Steinaugen der großen Schreine sich öffnen.
Denn die Tiere tragen in sich, was wir verloren haben: Geduld. Stärke. Schweigen.
Neunter Verse – Vom Wandel im Fleisch
„Zuerst beobachtest du das Tier. Dann wirst du es.“
Die Alten sagen: Wer lange in der Wildnis bleibt, beginnt sich zu verändern. Nicht im Geist – im Leib.
Manche verlieren das Wort. Sie bellen, flüstern, starren wie Luchs oder Hirsch. Nicht aus Wahn, sondern weil sie das Tier nicht mehr außen suchen – sondern innen finden.
Einige wachsen still in die Gestalt, die ihnen zugehörte, bevor sie geboren wurden. Der eine spürt Federn in den Schultern. Die andere sieht nachts im Schlaf durch Augen, die sie nie hatte.
„Der Pfad führt nicht nur hinaus. Er führt hindurch.“
Die Rufer nennen sie Wandler. Nicht Tier, nicht etwas Greifbares, sondern Brücke zwischen den Welten.
Sie schweigen nicht, weil sie nichts zu sagen haben – sondern weil ihre Sprache längst eine andere ist: Ruf. Kratzen. Schweigen.
Und manchmal, in sehr kalten Wintern, taucht einer von ihnen am Rand des Dorfes auf: halb Fell, halb Haut, mit einem Blick, der weder bittet noch droht.
Nur sagt: „Es beginnt.“
Zehnter Verse – Der Umbruch
„Wenn das Schweigen zu sprechen beginnt,
wird niemand mehr rufen müssen.“
Noch ruht Ylvanna.
Aber ihr Blick ist offen,
und ihr Atem kriecht durch das Fell der Tiere.
Die Wölfe heulen bei Tag. Die Krähen kehren zurück, wo Feuer war. Der Bär verlässt zu früh den Schlaf, der Hirsch lässt sein Geweih im Leib.
Und wenn der Fuchs dich ansieht, lange, ohne zu blinzeln – dann ist es geschehen.
Das Meer verschluckt Vögel. Der Fluss schweigt. Kein Fisch springt.
"Dann beginnen die letzten Zeichen.
Und die Alten nennen es: den Umbruch."
Nicht Feuer fällt vom Himmel, sondern die Stille aus der Tiefe.
Nicht Städte brechen, sondern Namen.
Nicht Leben stirbt, sondern das, was man glaubte, es sei Leben.
"Und wenn kein Tier mehr weicht und kein Mensch mehr fragt,
kehrt Ylvanna zurück – nicht mit Gnade, nicht mit Zorn,
sondern mit Wahrheit."
Langsam. Lautlos. Endgültig.
Nachvers – Das Wort, das nicht gesprochen wird
Das Wort, das nicht gesprochen wird
Am Ende aller Lieder wird kein Tempel steh’n, kein Banner wehen, kein Thron besteh’n.
Nur kalte Steine, leere Schatten, und der Atem in der Finsternis.
Und das Wort, das keiner je sprach es flüstert in der Stille.
Sei still, um es zu hören.
Schlusswort
Ich habe geschrieben, was ich hören konnte – nicht alles, was gesagt wurde.
Denn wer den Norden verstehen will, muss wissen: Er lässt sich nicht ganz auf Papier bannen.
Die Chroniken enden hier, doch das Land selbst endet nicht. Seine Lieder gehen weiter, in Stimmen, die kein Reich zum Schweigen bringt. Vielleicht wird eines Tages jemand anders die Feder aufnehmen und schreiben, was ich nicht gesehen habe.
Bis dahin lege ich dieses Werk nieder wie einen Stein am Weg:
nicht als Antwort, sondern als Spur.
– Vikohr Feuermal (21. Jh.)